Accessibility Checklist gegen graue Haare  

BITV 2.0 und "BITV-Test" sind nicht kompatibel mit den internationalen WCAG 2.0

Text: Accessibility-Checklisten - eine Serie in 12 Teilen. Orangefarbener Hintergrund mit 2 smileys (4 graue Haare - 4 schwarze Haare)

Wenn es um die Barrierefreiheit von Webseiten geht, so wird in Deutschland oft auf die BITV 2.0 verwiesen. Weil die BITV 2.0 nicht kompatibel ist mit internationalen Standards zur Barrierefreiheit, habe ich sie in der Vergangenheit nicht sonderlich beachtet und empfehle meinen Kunden, die WCAG 2.0 als Kriterienkatalog anzuwenden. Neulich befand ich mich aber in einer Situation, in der ich nicht umhin kam, mich mit der BITV 2.0 eingehender befassen zu müssen; und da es um einen Website-Audit ging, musste ich mir außerdem den sogenannten „BITV-Test“ zu Gemüte führen.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die BITV 2.0 viel zu oft von den WCAG 2.0 abweicht und außerdem, dass der “BITV-Test” weder die Konformität zur BITV 2.0 noch zu den WCAG 2.0 überprüft.

In diesem mehrteiligen Beitrag wird die Vorschrift zu barrierefreiem Webdesign in Deutschland kritisch beleuchtet. In der Barrierefreien Informationstechnik-Verordnung – BITV 2.0 wird geregelt, wer zur Gestaltung barrierefreier Webinhalte verpflichtet wird. In Anlage 1 werden die Anforderungen an barrierefreie Webseiten festgelegt. Es handelt sich bei diesen Anforderungen auf dem ersten Blick um eine Übersetzung der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.0, allerdings gibt es Einschränkungen, zu denen weiter unten mehr steht.

Das zweite Thema ist natürlich die Überprüfung der Barrierefreiheit. Es stimmt, dass es mit dem „BITV-Test“ eine öffentlich dokumentierte Testanleitung gibt. Es stimmt aber auch, dass diese Anleitung weder die BITV 2.0 noch die WCAG 2.0 richtig abbildet.

Der „BITV-Test“

Wenn es um die Barrierefreiheit von Webseiten öffentlicher Einrichtungen in Deutschland geht, so wird immer wieder der „BITV-Test“ genannt. Im Allgemeinen rate ich davon ab, was aber einen ganz bestimmten Grund hat: Dort werden Punkte vergeben und beispielsweise ergeben 95 Punkte ein „sehr gut“; infolge dessen neigt die Webentwicklung dazu, eine Webseite soweit zu „flicken“, bis die Punktzahl erreicht ist. Das kann nicht das Ziel sein. Vielmehr geht es um Wissen und passende Software; es geht bei der Barrierefreiheit darum, eine Haltung zu entwickeln, Barrieren gar nicht erst entstehen zu lassen, und Software einzusetzen, die beim Abbau von Barrieren unterstützt. In einem solchen Fall ist bestenfalls eine Qualitätskontrolle sinnvoll.

Dabei war ich vor vielen Jahren an der Entwicklung der Testanleitung beteiligt. Zwischen 2002 und 2005 arbeitete ich im Projekt „Barrierefrei Informieren und Kommunizieren (BIK)“ mit, und einer der Aufgaben war es damals, ein Verfahren zur Überprüfung der Barrierefreiheit zu entwickeln. Es gab lange Diskussionen und sogar Wochenend-Workshops, um dieses Thema voran zu bringen. Lange Rede, kurzer Sinn: Der „BITV-Test“ wurde 2004 geboren und ich habe mich für den zweiten Teil des Projekts nicht mehr zur Verfügung gestellt.

Seit dieser Zeit hatte ich keine Berührungspunkte mehr mit dem „BITV-Test“. Gewiss, ab und zu schaute ich bei einzelnen Prüfschritten nach, was denn die BIK-Leute zu einem bestimmten Aspekt der Barrierefreiheit schreiben, aber die Testanleitung war aus meiner Sicht für die Webseitenprüfung irrelevant. Maßgeblich für meine Tests und Gutachten sind die Anleitungen in den WCAG 2.0.

Davon bekommt man graue Haare

Vor Kurzem sollte ich in einem Projekt einen Text ausarbeiten, den eine Organisation ihren Dienstleistern als Handreichung geben wollte. Ich erhielt eine Vorlage, in der die Anforderungen an Software und speziell der Barrierefreiheit von Webinhalten beschrieben wurden, und bei der Durchsicht ahnte ich schon Schlimmes. Bei den formulierten Anforderungen habe ich graue Haare bekommen: Nicht nur waren sie teilweise veraltet und für die Praxis nicht relevant, sie waren darüber hinaus unvollständig und teilweise sehr vage formuliert; insgesamt wirkten sie auf mich unstrukturiert. Das galt nicht für alle Anforderungen – einige waren passgenau formuliert und entsprachen sowohl der BITV 2.0 als auch den WCAG 2.0 – aber es gab genügend Stellen, in denen die festgelegten Prüfschritte nicht einmal von der BITV 2.0 abgeleitet werden können.

Die Vorlage basierte auf den Erläuterungstexten zum „BITV-Test“. So entschloss ich mich, den „BITV-Test“ genauer unter die Lupe zu nehmen, denn ich musste meinen Kunden plausibel erklären können, dass die Testanleitung nicht dafür geeignet ist, die Konformität zu den Richtlinien für barrierefreie Webinhalte zu überprüfen.

Zur bevorstehenden Beitragsserie

In den nächsten Tagen und Wochen werde ich die 12 Anforderungen der BITV 2.0 (vergleichbar mit den 12 Richtlinien der WCAG 2.0) nacheinander vorstellen. Dabei werde ich zu jeder Anforderung drei Aspekte behandeln:

  1. Die Bedeutung der Anforderung schildern.
  2. Auf Abweichungen zwischen Bedingungen der BITV 2.0 und Erfolgskriterien der WCAG 2.0 hinweisen.
  3. Die Korrelation zwischen „BITV-Test“ und BITV 2.0 kommentieren.

Bei dem Vergleich der Bedingungen und den Erfolgskriterien werde ich mich auf Priorität I der BITV 2.0 beschränken. Priorität I entspricht in etwa die Konformitätsstufe AA der WCAG 2.0.

Ich werde dabei Punkte vergeben. Genauer gesagt: Ich werde Minuspunkte in Form von grauen Haaren vergeben, die sich teilweise auf die BITV 2.0, aber meist auf den „BITV-Test“ beziehen. Und weil es immer einfach ist, Kritik auszuüben, werde ich die Beiträge mit einer für die Prüfung nach BITV 2.0 geeigneten Accessibility-Checkliste für die jeweilige Anforderung ergänzen.

Das BIK-Projekt gibt es seit 2011 nicht mehr. Es gibt also keine Hoffnung, dass die Testanleitung korrigiert werden kann. Mögen die folgenden Beiträge aber helfen, zukünftig eine angemessene und vor allem zuverlässige Bewertung der Barrierefreiheit vorzunehmen:

Zur Anlage 1 der BITV 2.0

Die BITV 2.0 ist eine in 2011 überarbeitete Verordnung zum Behindertengleichstellungsgesetz. Darin werden einige Formalien geregelt, z.B. wer bis wann barrierefreie Webangebote zu erstellen hat. Die Kriterien für ein barrierefreies Webdesign werden durch die technischen Standards bestimmt. In Anlage 1 der BITV 2.0 werden die technischen Standards durch eine Übersetzung der WCAG 2.0 geboten.

Es wird darauf hingewiesen, dass bereits in 2009 eine autorisierte deutsche Übersetzung der WCAG 2.0 vom W3C vorgelegt wurde und dass die Aktion Mensch Anfang 2011 damit begonnen hatte, Übersetzungen der ausführlichen Dokumentation des Webstandards zu veröffentlichen. Die WCAG 2.0 sind wie eine Industrienorm formuliert, und in 2012 wurden die WCAG 2.0 als ISO/IEC 40500 neu veröffentlicht. Dieser Standard ist inzwischen Teil der europäischen Norm EN 301549 geworden.

Beim W3C sammeln sich darüber hinaus unzählige erläuternde und an verschiedene Zielgruppen gerichtete Dokumente zur WCAG 2.0. Hierzu zählen Erläuterungen zu den einzelnen Erfolgskriterien, Best-Practice-Beispiele für Webentwickler, Hinweise für Entscheider, Anleitungen für Zertifizierer u.v.m. Mit solchen Dokumenten werden die WCAG 2.0 laufend dokumentiert und erweitert und auf den aktuellen Stand der Technik gehalten.

Im Gegensatz dazu ist die Anlage 1 der BITV 2.0 ein isoliertes Regelwerk. Sie enthält weder Best-Practice-Beispiele noch Angaben zur Zertifizierung. Es handelt sich bei der Anlage 1 zur BITV 2.0 um eine auszugsweise Übersetzung des englischsprachigen Originals der WCAG 2.0, die nicht nur an einigen Stellen deutliche Übersetzungsfehler aufweist, sondern an mehreren Stellen bewusst geändert wurde, wie in der Begründung zur BITV 2.0 nachgelesen werden kann. Das größte Manko der Anlage 1 der BITV 2.0 ist jedoch, dass die Konformitätsbedingungen aus den WCAG 2.0 nicht übernommen wurden. Dadurch wird das ausgeklügelte System für eine Zertifizierung ausgehebelt und die Anlage 1 zur BITV 2.0 verkümmert dadurch zu einer Liste von Anforderungen ohne klare Regeln zur Überprüfung.

Die BITV 2.0 umfasst darüber hinaus eine Anlage 2, in der es um Gebärdensprache und Leichte Sprache geht, auf die ich aber nicht weiter eingehen werde, denn sie leitet sich nicht von den WCAG 2.0 ab.

3 Gedanken zu “Accessibility Checklist gegen graue Haare – BITV 2.0 und "BITV-Test" sind nicht kompatibel mit den internationalen WCAG 2.0

  1. Spannend… ich freue mich auf die Artikel und die Einschätzungen von Jan Eric Hellbusch. Bin gespannt, ob auch das Thema „barrierefreie PDF“ angerissen wird. In einer älteren Version des BITV – Test gab es noch den Prüfschritt 11.1.1, auf den bei Ausschreibungen gerne verwiesen wurde. Der neue BITV-Test hat meines Wissens keinen direkten Bezug zu PDF-Dokumenten, da zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des BITV-Test die inzwischen verabschiedete ISO 14289, PDF/UA noch nicht veröffentlicht war. Zur Prüfung von PDF-Dokumenten gibt es aber auch den hervorragenden PDF Accessibility Checker PAC . Infos und Links rund um PDF/UA auf der Community https://plus.google.com/u/0/communities/109053349804200355562

  2. Hallo Jan,

    ob sich das was bewegt?

    Auszug aus: BIK für Alle-Infobrief – Ausgabe 01/2015

    Zitat:
    Außerdem ist vorgesehen, den im Vorgängerprojekt entwickelten BITV-Test (www.bitvtest.de) an aktuelle Erfordernisse anzupassen:

    – Zukünftig soll zusätzlich die Bewertung von Webseiten gemäß den
    internationalen Richtlinien der WCAG ermöglicht werden. Eine
    Ergänzung, die einen Anreiz für transnational agierende Firmen
    zur Umsetzung eines barrierefreien Webdesigns bietet.

    Zitat Ende

    Vielleicht wird alles gut 🙂

    viele Grüße

    Eine Leserin

  3. Der Kommentar oben ist von 2015, heute – Juli 2017 finde ich beim BITV-Test über einen Artikel vom 11.7.17 „Überarbeitung von Prüfschritten im Jahr 2017“ den Artikel zu einem gemeinsamen BITV und WCAG Test:
    (http://www.bitvtest.de/bitvtest/das_testverfahren_im_detail/vertiefend/der_neue_bitv_wcag_test.html) Letzterer soll ausdrücklich die Konformität auf Basis „erfüllt“ / „nicht erfüllt“ abbilden. Der BITV-Test bleibt bei seiner – zweifelhaften – Punkte oder Prozent-Rechnung (ein bisschen schwanger gibt es nicht).

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