Neuer Webstandard für digitale Barrierefreiheit  

Die WCAG 2.1 ergänzt die WCAG 2.0 um 17 neue Erfolgskriterien

Screenshot: Titelzeile der WCAG 2.1 Recommendation

An den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.1 wurde seit 2016 gearbeitet. Am letzten Dienstag wurden sie vom W3C endlich in den Status einer „recommendation“ erhoben. Die Änderungen umfassen gegenüber der Vorgängerversion – den WCAG 2.0 – im Wesentlichen 17 neue Erfolgskriterien. Ein Schwerpunkt ist dabei die Nutzung auf mobilen Geräten.

Die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.0 sind ein aktueller Webstandard für barrierefreies Webdesign und wurden 2008 vom W3C veröffentlicht. Anfang Juni 2018 wurden die WCAG 2.1 veröffentlicht. Die WCAG 2.1 ergänzen die WCAG 2.0, d.h. jetzt gelten zwei Richtlinien zur Barrierefreiheit von Webinhalten nebeneinander.

Die WCAG 2.1 schließen einige Lücken in den WCAG 2.0, die die Zugänglichkeit insbesondere für Sehbehinderte und Lernbehinderte sowie die Nutzung mobiler Geräte für Menschen mit Behinderung betreffen. Gegenüber den WCAG 2.0 umfassen die WCAG 2.1 eine neue Richtlinie und 17 neue Erfolgskriterien. Die 12 Richtlinien und 61 Erfolgskriterien aus den WCAG 2.0 wurden 1:1 übernommen.

Aufbau der WCAG 2.x

Die WCAG 2.x sind pyramidenartig aufgebaut. Sie bestehen aus

  • 4 Prinzipien (wahrnehmbar, bedienbar, verständlich, robust)
  • 12 bzw. 13 Richtlinien – quasi das Management Summary
  • 61 bzw. 78 Erfolgskriterien, die es zu erfüllen gilt
  • unzählige Techniken mit Best-Practice-Beispielen

Dazu kommen 5 Konformitätsbedingungen, die in jedem Fall erfüllt sein müssen.

Entscheidend für die Bewertung der Barrierefreiheit ist die Erfüllung der Erfolgskriterien. Sie sind auf drei Konformitätsstufen verteilt (Konformitätsstufe A, AA und AAA), wobei Erfolgskriterien auf der Stufe A die wichtigsten Kriterien darstellen. Alle Erfolgskriterien sind als testbare Anweisungen formuliert und, um die Barrierefreiheit einer Webseite zu attestieren, müssen entweder alle Kriterien auf Stufe A oder alle Kriterien auf Stufe A und AA oder alle Kriterien erfüllt sein. Diese aufeinander aufbauende Barrierefreiheit ergibt sich aus der ersten Konformitätsbedingung der WCAG 2.x.

Die neue Richtlinie in den WCAG 2.1

Die WCAG 2.1 führt eine neue Richtlinie 2.5 (Input Modalities, übersetzt „Eingabemodalitäten“) ein. Während in den WCAG 2.0 die Anforderungen an die Eingabe im Wesentlichen nur die Tastaturbedienbarkeit umfasste, sollen zukünftig auch die Barrierefreiheit anderer Eingabemöglichkeiten (insbesondere Touch-Screen und Spracheingabe) berücksichtigt werden. Insgesamt gibt es sechs Erfolgskriterien zu dieser Richtlinie:

  • 2.5.1 Pointer Gestures [Konformitätsstufe A] – Aktionen müssen auch mit einem Finger und ohne Wischen möglich sein.
  • 2.5.2 Pointer Cancellation [A] – Aktionen dürfen nicht durch bloßes Berühren ausgelöst werden.
  • 2.5.3 Label in Name [A] – Sichtbare Beschriftungen von Steuerelementen müssen auch Teil der technischen Bezeichnung („accessible name“) sein.
  • 2.5.4 Motion Actuation [A] – Wenn die Bewegung des Geräts oder des Nutzers für eine Aktion erforderlich ist, dann bietet der Inhalt eine Komponente für die gleiche Aktion.
  • 2.5.5 Target Size [AAA] – Im Allgemeinen sind Komponenten mindestens 44×44 CSS-Pixel groß zu gestalten.
  • 2.5.6 Concurrent Input Mechanisms [AAA] – Der Inhalt darf nicht die verfügbaren Eingabemodalitäten einer Plattform einschränken.

Weitere neue Erfolgskriterien

Über die bereits aufgeführten Erfolgskriterien für Richtlinie 2.5 hinaus gibt es elf weitere Erfolgskriterien, die sich auf verschiedene Richtlinien aus den WCAG 2.0 verteilen.

Typisch für die mobile Nutzung

Für die Nutzung mobiler Geräte und Spracheingabe gibt es zwei weitere Erfolgskriterien:

  • 1.3.4 Orientation [AA] – Inhalte sollten sowohl im Portrait- als auch im Landschaftsmodus dargestellt und bedient werden können.
  • 2.1.4 Character Key Shortcuts [A] – Sofern 1-Tasten-Befehle bereitgestellt werden, müssen sie abgeschaltet oder geändert werden können.

Visuelle Wahrnehmung

Vor allem für den Zugang durch sehbehinderte Nutzer gibt es vier neue Erfolgskriterien in Richtlinie 1.4. Es geht um folgende Aspekte:

  • 1.4.10 Reflow [AA] – Inhalt kann mit 320 CSS-Pixeln (Breite oder Höhe) angezeigt werden, ohne dass Informationen oder Funktionen verloren gehen und ohne dass in zwei Richtungen gescrollt werden muss.
  • 1.4.11 Non-Text Contrast [AA] – Für visuell angezeigte Zustände von Komponenten und für grafische Objekte besteht eine Kontrastanforderung von 3:1.
  • 1.4.12 Text Spacing [AA] – Es gibt keine Informations- oder Funktionsverluste, wenn die Zeilenhöhe, der Absatzabstand, der Zeichenabstand und/oder der Wortabstand (in bestimmten Grenzen) erhöht wird.
  • 1.4.13 Content on Hover or Focus [AA] – Wenn Tooltips angezeigt werden, dann sind sie persistent und verdecken anderen Inhalt nicht.

Kognitive Aspekte

Die Barrieren, die aufgrund von Einschränkungen kognitiver Fähigkeiten entstehen, sind vielfach. Die Neuerungen in den WCAG 2.1 sind hingegen überschaubar:

Bei der Entwicklung der WCAG 2.1 gab es zahlreiche weitere Vorschläge, von denen Nutzer mit kognitiven oder Lernbehinderungen profitieren sollten. Diese Erfolgskriterien haben es größtenteils nicht in die endgültige Fassung des Webstandards geschafft.

Es bleiben noch zwei

Es gibt schließlich noch zwei Erfolgskriterien, die zum einen die visuelle Ablenkung und zum anderen die Nutzung eines Screenreaders betreffen:

  • 2.3.3 Animation from Interactions [AAA] – Die nicht-erforderliche Animation von Bewegung, die durch Interaktion ausgelöst wird, kann vom Nutzer abgeschaltet werden.
  • 4.1.3 Status Messages [AA] – Statusinformationen werden durch Rollen oder Eigenschaften gekennzeichnet, damit Hilfsmittel sie ausgeben können ohne den Fokus darauf legen zu müssen.

Sonstige Änderungen

Sonstige Änderungen gegenüber den WCAG 2.0 gibt es in den WCAG 2.1 kaum. Einige neue Begriffe werden im Glossar definiert. Auch stehen im Präambel einige Hinweise dazu, warum Webseitenbetreiber jetzt die WCAG 2.1 einsetzen sollten.

In Konformitätsbedingung 2 gibt es aber einen zusätzlichen Fall. Konformität kann bekanntlich nur für ganze Seiten behauptet werden. In Konformitätsbedingung 2 wird jetzt festgelegt, dass eine ganze Seite alle Variationen der Webseite auf Telefon bis Desktop umfasst.

Ausblick

Die WCAG 2.1 ist als ersten Schritt auf dem Weg zu WCAG 3.0 zu bewerten. Bis eine WCAG 3.0 veröffentlicht wird, werden WCAG 2.0 und WCAG 2.1 parallel zueinander angewandt werden können. Die WCAG 2.1 ist dabei rückwärtskompatibel; das Umgekehrte gilt jedoch nicht.

Aktuell gelten die WCAG 2.0 fast überall auf der Welt als Maßstab für digitale Barrierefreiheit. Das ist in Europa durch die Europäische Richtlinie 2016/2012 festgelegt, aber auch in der amerikanischen Section 508 und in anderen Vorgaben wird fast immer die WCAG 2.0 zugrunde gelegt. Ob die WCAG 2.1 auf gleicher Weise übernommen wird, ist derzeit unklar, denn die WCAG 3.0 mit größeren Änderungen ist für 2020 angekündigt.

Die WCAG 2.1 bedeuten definitiv ein Fortschritt für das barrierefreie Webdesign. Insbesondere die neuen Anforderungen sehbehinderter Nutzer – die in vielen Kriterienkataloge der Barrierefreiheit eindeutig unterrepräsentiert sind – sind vorteilhaft für alle Nutzer. Auch die barrierefreie Nutzung moderner Eingabemöglichkeiten per Touch-Screen und Spracheingabe sollte inzwischen zum Repertoire von Webentwicklern gehören.

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