Die „Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung – BITV 2.0“ gibt vor, dass öffentliche Stellen in Deutschland die EN 301549 zur digitalen Barrierefreiheit erfüllen müssen. Erst wenn diese Europäische Norm berücksichtigt wird, kann angenommen werden, dass Informations- und Kommunikationstechnik barrierefrei ist. Die BITV 2.0 schreibt jedoch auch vor, dass eine Webseite, ein Dokument oder eine Software nach dem Stand der Technik entwickelt werden muss, um Nutzeranforderungen gerecht zu werden.
In 2016 trat die Europäische Richtlinie 2016/2102 in Kraft. Aufgrund dieser Richtlinie wurde das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) in 2018 überarbeitet. Nach § 12a BGG sind Webseiten, Dokumente und Software nach allgemein anerkannten Regeln der Technik barrierefrei zu gestalten. „Allgemein anerkannte Regeln der Technik“ umfasst solche Techniken, die in der Praxis erprobt sind und von den meisten Fachleuten anerkannt werden. Ein Indiz für eine solche Regel der Technik ist die Festlegung in einer Norm (zum Beispiel die EN 301549 für barrierefreie Informations- und Kommunikationstechnik).
Mindestanforderungen der EN 301549
Weitere Vorgaben der Europäischen Richtlinie wurden im Mai 2019 in der BITV 2.0 eingearbeitet. In dieser Fassung der BITV 2.0 wird die Barrierefreiheit beispielsweise von Anwendungen dann angenommen, wenn die Anwendung den im Amtsblatt der Europäischen Union genannten harmonisierten Standards entspricht. Im Amtsblatt wurden zuletzt im Dezember 2018 die EN 301549 v2.1.2 als harmonisierter Standard benannt.
Die EN 301549 beschreibt die Barrierefreiheit von sehr unterschiedlichen digitalen Inhalten. Für Webseiten, Dokumente und nicht-webbasierter Software (wie zum Beispiel mobile Apps) legt die EN 301549 fest, dass die Erfolgskriterien aus den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.1 aus Juni 2018 anzuwenden sind.
Die WCAG 2.1 umfassen insbesondere 78 Erfolgskriterien auf drei Konformitätsstufen. Die 50 Erfolgskriterien auf Konformitätsstufen A und AA müssen nach der BITV 2.0 mindestens erfüllt sein, um die Barrierefreiheit der Software vermuten zu können (§ 3 Absatz 2 BITV 2.0).
Weitere Vorgaben der BITV 2.0
Über die Anwendung der EN 301549 (respektive WCAG 2.1) hinaus stellt die BITV 2.0 weitere Anforderungen an die Barrierefreiheit von Webseiten, Dokumenten und nicht-webbasierter Software. Zu beachten sind:
- Nutzeranforderungen (die nicht von der EN 301549 abgedeckt sind) müssen nach dem Stand der Technik barrierefrei gestaltet werden (§ 3 Absatz 3 BITV 2.0). „Stand der Technik“ bedeutet im Zusammenhang mit digitaler Barrierefreiheit, dass fortschrittliche Techniken eingesetzt werden, die sich in der Praxis bewährt haben und die eine bestmögliche Barrierefreiheit für den Zugang durch Menschen mit Behinderung sichern, ohne die Funktionalität der Informations- und Kommunikationstechnik zu beeinträchtigen. Die BITV 2.0 verschärft dadurch die Anforderung aus § 12a BGG und gibt damit vor, dass Informations- und Kommunikationstechnik mehr als nur die Mindestanforderungen der Barrierefreiheit nach EN 301549 oder WCAG 2.1 erfüllen muss.
Beispiel: Für dynamische Komponenten sind die Spezifikation zu Accessible Rich Internet Applications (ARIA) 1.1 sowie die zugehörigen WAI-ARIA Authoring Practices 1.1 des W3C als Stand der Technik zu bewerten. Erst die Befolgung dieser Empfehlungen gewährleisten eine gute Nutzbarkeit von Webanwendungen mit Hilfsmitteln wie Screenreader. Dynamische Komponenten, die diesen Empfehlungen nicht entsprechen, können konform mit den WCAG 2.1 sein, werden dann aber mit Screenreadern nur umständlich zu bedienen sein. - Für Anwendungen, die eine Nutzerinteraktion erlauben (wie zum Beispiel in Formularen), soll ein höchstmögliches Maß an Barrierefreiheit angestrebt werden (§ 3 Absatz 4 BITV 2.0). Die genaue Bedeutung dieser Anforderung ist in der BITV 2.0 nicht festgelegt, aber sie muss immer dann zum Zuge kommen, wenn Zugänglichkeitsprobleme auftreten. Ein Höchstmaß der Barrierefreiheit kann die Erfüllung aller Erfolgskriterien der WCAG 2.1 oder die Erfüllung weiterer Normen zur Nutzbarkeit einer Anwendung bedeuten, aber auch die Berücksichtigung nutzerspezifischer Anforderungen.
Die Ausgangssituation hat sich verbessert
Inzwischen ist es auch in vielen Köpfen angekommen, dass die Erfüllung der WCAG 2.1 (Stufe AA) lediglich bedeutet, dass die meisten Menschen von der Nutzung einer Webseite, eines Dokuments oder einer Software nicht ausgeschlossen werden. Informations- und Kommunikationstechnik, die „nur“ die Konformität zu den WCAG 2.1 (Stufe AA) erreicht, erfüllt vielleicht die Pflicht, aber gut nutzbar müssen die digitalen Inhalte noch lange nicht sein, vor allem wenn eine Behinderung das Lesen, die Navigation oder die Interaktion erschweren. Die Erfüllung der WCAG 2.1 (Stufe AA) muss daher als „ausreichende Barrierefreiheit“ angesehen werden.
Die BITV 2.0 geht zwar davon aus, dass Informations- und Kommunikationstechnik barrierefrei ist, wenn die Mindestanforderungen der Barrierefreiheit erfüllt sind, aber sie lässt Raum für weitergehende Anforderungen. Dieser Spielraum ist auch dringend notwendig gewesen, was nicht nur das obige Beispiel zu ARIA betrifft. In der Vorgängerversion der BITV 2.0 wurden die WCAG ebenfalls zugrunde gelegt, aber die öffentlichen Stellen gaben (und geben) sich mit einer 90%igen oder 95%igen Erfüllung der Anforderungen zufrieden. Per Definition sind dadurch (fast) alle Webseiten aktuell nicht barrierefrei und haben mindestens eine Nutzergruppe von der Nutzung ausgeschlossen oder sind bei der Benutzung eingeschränkt. Die WCAG-Anforderungen sind jetzt eine Mindestanforderung und keine „relative“ Maximalanforderung– das lässt auf mehr professionelle Informations- und Telekommunikationstechnik hoffen.
Dass bei Formularen und anderen interaktiven Prozessen ein Höchstmaß an Barrierefreiheit angestrebt werden soll, ist schon eine Kann-Bestimmung. Mit einem Blick in die Begründung zur BITV 2.0 wird verständlich, dass es um die Erfüllung aller Kriterien der WCAG 2.1 handelt. Es wird sich zeigen, ob sich diese Vorgabe durchsetzt – der Mehraufwand dürfte sich bei interaktiven Prozessen in Grenzen halten. Es wird eine Frage der Haltung sein. Generell erlaube ich mir aber zu behaupten, dass die Konformitätsstufe AAA aus den WCAG 2.1 noch weit entfernt von einem Höchstmaß an Barrierefreiheit ist.
Die Frage, die sich mir konkret stellt, ist ob sich ein Konsens zum Stand der Technik entwickelt. Nach der BITV 2.0 wird ein Ausschuss zur barrierefreien Informationstechnik eingerichtet (§ 5 BITV 2.0). Zu seinen Aufgaben wird gehören, sowohl den Stand der Technik als auch das Höchstmaß an Barrierefreiheit zu ermitteln und zu dokumentieren. Das könnte spannend werden, aber nur wenn echte Experten zur Umsetzung digitaler Barrierefreiheit dort mitwirken. Bei einigen Themen wird es ein Leichtes sein, den Stand der Technik festzulegen (zum Beispiel ARIA bei dynamischen Komponenten), aber bei anderen Themen wird das nicht immer so einfach sein. Immerhin, da in diesem Ausschuss Verwaltung, Wirtschaft, Behindertenverbände und Wissenschaft zusammenkommen sollen, dürften die Ansprüche und die Interessen sehr unterschiedlich sein.
Da können wir Michael Wahl, designierter Leiter der Überwachungsstelle, ein glückliches Händchen bei der Einrichtung des Ausschusses wünschen.
1 Gedanke zu “Stand der Technik – Die BITV 2.0 verlangt mehr als die Erfüllung der WCAG 2.1”