Das Hörbuch „Liverpool Street“ von Anne Charlotte Voorhoeve hatte ich als Jugendbuch einsortiert und lange nicht beachtet. Immerhin, die Geschichte dreht sich um die elfjährige Ziska Mangold, die in Berlin der 1930er aufwächst. Die Geschichte ist feinfühliger und tiefgründiger als ich erwartet habe. Schon nach wenigen Minuten war ich eingetaucht.
Es ist 1938 in Berlin und Ziska und ihre Freundin Bekka spüren die Ausgrenzung bereits durch ihre Mitschüler. Ziska und ihre Eltern sind zwar Protestanten, aber deren Vorfahren waren Juden. Ziskas Vater wird ein Berufsverbot auferlegt, und die Familie versucht, eine Flucht aus Deutschland zu organisieren.
Die Situation der Familie ändert sich dramatisch während der Novemberpogrome. Ziskas Vater wird von Judenhassern zusammengeschlagen und verschleppt. Ziskas Mutter will nicht ohne ihren Mann aus Deutschland flüchten. Als Ziska von Bekka erfährt, dass sie für einer der Kindertransporte nach England registriert wurde, kommen Ziska und ihre Mutter zu dem Schluss, dass Ziska auch auf die Liste gesetzt werden soll.
Anfang 1939 wird Ziska ein Platz in einem der Kindertransporte zugewiesen und sie fährt mit Hunderten anderen Kindern quer durch Europa bis zum Londoner Bahnhof Liverpool Street. Tragisch bei dieser Gelegenheit ist, dass Bekka keinen Platz bekommt und sich deshalb mit Friska zerstritten hat. Die beiden können sich später in einem Briefwechsel zwar noch versöhnen, aber wie für so viele Menschen zu der Zeit in Deutschland war die untersagte Ausreise verhängnisvoll.
Die Geschichte, die folgt, ist sehr lesenswert. Friska wird von der Familie Shephard aufgenommen, die – wie es sich herausstellt – streng nach dem jüdischen Glauben lebt. Anfangs muss Ziska die Sprache und die neue jüdische Kultur lernen, aber viel wichtiger ist die Beziehung zu ihren neuen Pflegeeltern und deren Sohn Gary. Heimweh und Ängstlichkeit begleiten sie die ersten Monate, aber langsam gewöhnt sie sich an ihre neue Umgebung, und sie wird als Familienmitglied akzeptiert. Noch im September des gleichen Jahres findet aber die nächste Umwälzung in ihrem Leben statt, als sie bei Kriegsbeginn mit den anderen Kindern Londons evakuiert wird. Sie kommt zu einer neuen Familie, die sie abweisend behandelt und für die sie nicht mehr als eine billige Arbeitskraft ist.
Bei diesem Buch handelt es sich um ein Flüchtlingsdrama aus individueller Sicht, und es ist ein Jugendbuch, denn trotz der vielen schrecklichen Ereignisse fokussiert die Autorin auf Dialoge und das Leben der jungen Ziska. Die bekannten geschichtlichen Fakten von unbegründeten Hass über Flucht und Kriegsgeschehen bis Vernichtungslager bleiben nicht unerwähnt, aber sie werden fast neutral beschrieben. Trotz der Ereignisse in Europa, die übrigens stets präsent sind, muss das Mädchen sich mit ganz normalen Dingen des Erwachsenwerdens wie z.B. Jungs auseinandersetzen.
Francis, wie Ziska in England gerufen wird, ist eine starke Figur. Trotz Flucht und Krieg ist sie kein Opfer, sondern stellt sich ihrer Situation. Die Autorin verschmilzt die Unwissenheit und Willenskraft eines Kindes mit dem historischen Hintergrund. Die verschiedenen Beziehungen von Frances zu Eltern und Pflegeeltern, zu ihrem Bruder Gary und anderen Flüchtlingen wirken authentisch. Außerdem entwickelt die Handlung eine erstaunliche und kontinuierliche Spannung.
Die Sprecherin ist Sascha Icks. Die Aufsprache ist durchaus gut und abwechslungsreich. Ich hätte mir zwar gewünscht, dass verschiedene Intonationen besser auf verschiedene Charaktere verteilt gewesen wären, aber dennoch tut das dem Gesamteindruck keinen Abbruch. Die Stimme trägt viel zu dem interessantem Lesevergnügen bei.
Das Hörbuch umfasst 6 CDs.