In deutscher Sprache gibt es leider wenig Literatur zu barrierefreiem Webdesign. Umso erfreulicher ist es, dass einer der alten Hasen in diesem Geschäft, Jörg Morsbach, ein Buch veröffentlicht hat, um vor allem Entscheidern und Redakteuren unter die Arme zu greifen. Auf 183 Seiten fasst er Theorie und Praxis des barrierefreien Webdesigns in 13 Kapiteln zusammen. Für den Einstieg in das Thema ist das Buch durchaus geeignet.
Das Buch besteht aus zwei Teilen: Einen Theorieteil und einen Praxisteil.
Theorieteil: Weder zu lang noch zu kurz
Warum digitale Barrierefreiheit wichtig ist, lässt sich mit vielen Entwicklungen der letzten 30 Jahre beschreiben. Jörg hat dazu 9 Kapitel verfasst, die die wesentlichen Rahmenbedingungen für barrierefreies Webdesign aus den letzten 15 Jahren aufzeigen. Dass er dabei nicht in die Tiefe geht, ist nicht notwendig, denn sein Schreibstil ist pointiert. Außerdem werden weiterführende Quellenangaben angegeben.
Neben drei einleitenden Kapiteln bietet der erste Teil auch folgende Kapitel:
- Schnelleinstieg: Hier werden die Prinzipien der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG), Personas sowie sogenannte Easy Checks vorgestellt. – alles in allem wesentliche Themen, aber selbstverständlich in diesem Buch eher als Anreißer konzipiert.
- Kapitel 5 behandelt die Mensch-Maschine-Schnittstelle, ein interessantes Fachgebiet aus der Software-Ergonomie. Jörg beschreibt in allgemeinen Worten die Hardware-Aspekte der Schnittstelle und schließt mit einigen Anregungen für Redakteure. Aus meiner Sicht hätten hier auch die besonderen Merkmale der Schnittstelle skizziert werden sollen, die den Zugang durch Menschen mit Behinderungen restriktieren.
- „Zugang für Alle“ ist die nächste Kapitelüberschrift. Das Kapitel spannt einen Bogen von der Anfangszeit des Web bis hin zu den prozessorientiertem Ansatz des Universal Designs. Als Nutzergruppen werden hier nur die Gruppen der Blinden sowie „die Unterschicht“ (dieser Duktus entstammt dem Buch) beispielhaft aufgeführt. Dennoch wird deutlich, dass Barrierefreiheit ein vielseitiges Thema ist.
- Beim Kapitel „Vorurteile“ war ich gespannt, welche Themen behandelt werden. Dort werden 12 Vorurteile aufgelistet und Gegenargumente geliefert. Manche dieser Vorurteile habe ich ehrlicherweise seit über 10 Jahren nicht mehr gehört, aber irgendwann hat es sie alle gegeben. Erwähnenswert ist der Satz „WCAG-Konformität ist nur möglich, wenn alle Kriterien und Prüfschritte erfüllt wurden.“ (Vorurteil 11). Hier wird dann beschrieben, dass wir in Deutschland uns durch den BITV-Test daran gewöhnt hätten, den Grad der Barrierefreiheit zu messen. Tatsächlich verlangt die BITV, dass alle WCAG-Kriterien auf Stufe AA auf allen Seiten erfüllt sein müssen (vgl. § 3 Absatz 1 Satz 1 BITV 2.0). Dieser Widerspruch ist aus meiner Sicht mehr als ein Missverständnis, denn dadurch legitimiert sich der BITV-Test nur selbst, obwohl eine partielle Konformität ein Rechtsverstoß bedeutet. dabei stellt die WCAG-Konformität die Minimalanforderung dar, damit Webseiten überhaupt von (fast) allen genutzt werden können.
- In Kapitel 8 über Zielgruppen werden zunächst die Gruppe der Senioren und ihre Bedürfnisse und anschließend die typischen Nutzergruppen mit Behinderungen vorgestellt. Für Einsteiger ist das sicher wichtig und motivierend, zu erkennen, welche vielfältigen Nutzergruppen von der Barrierefreiheit profitieren.
- In Kapitel 9 werden die Standards vorgestellt, um die es letztlich im barrierefreien Webdesign geht. Auch hier betont Jörg: “ Basis aller Vorgaben für Barrierefreiheit von Inhalten im Internet sind die WCAG des W3C.“ Nach einigen Hinweisen zum europäischen Recht wird der Theorieteil mit einigen Zeilen zu den Vorgaben in den USA sowie zu den ISO 9241 abgeschlossen.
Dadurch, dass das Buch erst vor wenigen Monaten erschienen ist, ist der Theorieteil verhältnismäßig aktuell, aber wie Jörg selbst einleitend schreibt, muss das Buch wahrscheinlich regelmäßig aktualisiert werden. Das wird an den Ausführungen zu der Europäischen Richtlinie 2102 oder zum Behindertengleichstellungsgesetz in Deutschland deutlich, die jetzt schon angepasst werden müssten. Dennoch will ich mich an solchen Details nicht aufhängen: Die allgemeine Aussage ist, dass die WCAG als Vorgabe für Barrierefreiheit steht und dass es nicht einfach damit getan ist, sich an diese Richtlinie zu halten, sondern mehr als WCAG-Konformität erforderlich ist, um für alle nutzbare Webinhalte zu produzieren.
Dennoch hätte ich mir für diesen Teil eine stärkere Ausrichtung auf aktuelle Entwicklungen wie z.B. die im ersten Halbjahr dieses Jahres veröffentlichte Web Content Accessibility Guidelines 2.1 gewünscht, und wie die Europäische Richtlinie mit den WCAG 2.1 nicht nur die Messlatte für Barrierefreiheit jetzt in alle Mitgliedsstaaten der EU erhöht, sondern dass die Anforderungen für fast alle öffentlichen Stellen gelten wird. Allerdings würde das nichts an der allgemeinen Botschaft ändern. So gesehen ist der Theorieteil eine gute Zusammenfassung des aktuellen Stands in Deutschland.
Praxisteil: Ein breites Spektrum an einfachen Tipps
Der Praxisteil besteht aus vier Kapiteln, die die Themen Testen, Regeln für die Webredaktion, PDF und Leichte Sprache aufgreifen.
Unterbau testen
Kapitel 10 besteht im Wesentlichen aus einer Checkliste auf der Grundlage des BITV-Tests der DIAS GmbH, was mich angesichts der Aussagen zur WCAG im ersten Teil überrascht hat. Persönlich glaube ich nicht, dass solche Checklisten hilfreich sind, denn für Einsteiger setzen sie viel Vorwissen voraus und für Experten sind sie zu oberflächlich. Aus meiner eigener Praxis kenne ich den Ruf nach Checklisten zur Überprüfung der Barrierefreiheit, allerdings rate ich immer davon ab, denn tatsächlich greifen sie alle viel zu kurz, um WCAG-Konformität prüfen zu können. Der BITV-Test bildet da keine Ausnahme und fördert außerdem durch sein Punktesystem die Nicht-Erfüllung der rechtlich festgelegten Minimalanforderungen.
Ich glaube, Jörg hat den Lesern hier keinen Gefallen getan, diese Checkliste in dieser epischen Breite vorzustellen. Immerhin, er bietet Erläuterungen zu einzelnen Checkpunkten, doch eine ausführliche Auseinandersetzung muss für die vorgesehene Anwendung vorausgesetzt werden. Vielleicht irre ich mich aber auch, denn das Verfahren ist zwar national und international von Fachleuten wenig akzeptiert, wird in Deutschland aber trotzdem immer wieder von allen möglichen Organisationen eingesetzt.
Barrierefreiheit in der Redaktion
Kapitel 11 umfasst die zahlreichen Aspekte der Barrierefreiheit, die typischerweise von einer Webredaktion zu verantworten sind. Ob Links oder Abkürzungen, ob Datentabellen oder Grafiken, Jörg liefert für alle Inhaltsformen eine kurze Erklärung und meist ein einfaches Beispiel. Dass dadurch nur ein typisches Szenario für jede Inhaltsform vorgestellt wird, ist zunächst nicht tragisch, denn in der Praxis steckt der Teufel oft im Detail, und es wird nicht ausbleiben, dass konkrete Inhalte mit alternativen oder abgewandelten Techniken barrierefrei umgesetzt werden müssen.
Einige der Abschnitte sind recht kurz. Bei einigen Abschnitten fällt auf, dass sie einerseits von den Kriterien der WCAG abweichen und andererseits – im Gegensatz zu den anderen Kapiteln – nicht mit Links zu passenden weiterführenden Ressourcen ergänzt werden.
Darüber hinaus behandeln die Tipps weitere Themen wie Layout, Typografie und das Schreiben selbst. Zusammenfassend kann ich sagen, wer diese Tipps beherzigt und umsetzt wird in jedem Fall für alle zugängliche und nutzbare Inhalte ins Web stellen.
Kapitel 12 und 13
In Kapitel 12 und 13 werden die Themen „PDF“ und „Leichte Sprache“ aufgegriffen, allerdings in Kompaktform. Beide Themen werden in zwei Absätzen zusammengefasst. Die Aufmerksamkeit muss natürlich auf PDF-Dateien gelenkt werden, denn Inhalte in PDF-Dateien können durchaus ein großes Problem der Zugänglichkeit darstellen. Ob Leichte Sprache auf der Basis der dort angegebenen Europäischen Richtlinie an Bedeutung gewinnt, ist nach meinem Kenntnisstand allerdings zweifelhaft.
Bewertung
Es war für mich interessant, dass Buch durchzulesen. Jörg liefert die Erkenntnisse vieler Jahre Erfahrung aus einer Internetagentur, und bringt diese als Empfehlung auf den Punkt. Dass er sich nicht immer an die WCAG hält (vor allem in Kapitel 10), ist für seine Zielgruppen nicht entscheidend. Mich hätte es aber trotzdem interessiert, wie er zu manchen Aussagen in Kapitel 11 gekommen ist.
Für diejenigen Personen, die sich in die redaktionelle Arbeit und den Aspekt der Barrierefreiheit einlesen wollen, ist das Buch durchaus empfehlenswert. Das Buch ist kurzweilig und streift alle Themen der Barrierefreiheit im redaktionellen Alltag und liefert weitergehende Tipps für die Gebrauchstauglichkeit und Leserlichkeit. Da das Buch einführenden Charakter hat, muss es als Spitze des Eisbergs angesehen werden, d.h. um barrierefreie Inhalte für das Web erstellen zu können, müssen sich Redakteure eingehender mit Barrierefreiheitsanforderungen und Umsetzungstechniken beschäftigen. Das Buch stellt dabei ein guter Startpunkt dar.
Was nicht erwartet werden kann, ist dass nach der Lektüre sofort WCAG-konforme Webseiten erstellt werden können. Dazu gibt es drei Gründe:
- Es handelt sich bei diesem Buch tatsächlich um eine Einführung.
- Das Buch bzw. der zweite Teil beschränkt sich auf typische Aufgaben der Redaktion. Design und Template-Entwicklung bleiben außen vor.
- Die Konformität spielt in den Ausführungen kaum eine Rolle, d.h. es werden meist einzelne Techniken vorgestellt ohne die entsprechenden Erfolgskriterien ausreichend zu erläutern – zugegebenermaßen ein Aspekt, der erst bei der Qualitätssicherung eine Rolle spielt.
Trotz dieser Einschränkungen dürften die wenigsten Leser vom Inhalt enttäuscht sein.
Im Übrigen habe ich Jörg in kollegialer Freundschaft eine Liste von Anmerkungen geschickt, die sich ausschließlich auf die Übereinstimmung mit den WCAG und der aktuellen HTML-Spezifikation beziehen.
Das Buch erwerben
Das Buch kann bei Amazon bestellt werden. In seinem Blog „Barrierekompass“ stellt Jörg Morsbach sein Buch selbst auch noch vor.