Vor wenigen Monaten habe ich auf dem Blog von Heiko Kunert seine Rezension über „Die Elenden“ gelesen. Seine positive Meinung hat mich dazu bewegt, das Hörbuch zu kaufen. Im Nachhinein hat sich das sehr gelohnt.
Heiko Kunert begann seine Rezension mit dem Wort „Geschafft“. Bis zum zweiten Drittel des Buchs habe ich immer wieder gedacht, hätte ich diesem Wort doch mehr Beachtung geschenkt, denn die Erzählung ist anfangs zumindest gewöhnungsbedürftig. Alleine der Sprecher, Gert Westphal, hat mich weiterlesen lassen. Es war seine Vorlesekunst, die das Hörbuch so lesenswert macht, und jetzt verstehe ich, warum Westphal gelegentlich als „König der Vorleser“ betitelt wurde.
Die Geschichte von Verlierern
Wie der Buchtitel schon suggeriert, geht es in diesem Roman nicht um Könige und Gloria. Die Geschichte von Victor Hugo dreht sich um Verbrechen, Armut und die damit einhergehende Perspektivlosigkeit. Die Handlung findet im frühen 19. Jahrhundert in Paris statt und erzählt die Geschichte vom ehemaligen Sträfling Jean Valjean, der nach seiner Entlassung in die Freiheit zunächst eine ihn stark beeinflussende Begegnung mit einem Geistlichen hat und sein Leben darauf hin zum Positiven ändern will. Jean Valjean schafft es, zu Reichtum zu kommen, und rettet das Mädchen Cosette aus der Pflege der Gastwirtsfamilie Thénardier, die es wie ein Hund behandeln. Jean Valjean kauft das Mädchen frei und übernimmt ihre Erziehung.
Jean Valjean ist ein fast geläuterter Mann in allen Handlungssträngen. Und doch bleibt er immer der ehemalige Sträfling und sieht sich selbst auf der untersten Sprosse der Gesellschaft. Er ist eine moralische Instanz, wird aber von Verbrechern und Polizei verfolgt. Sein Reichtum ermöglicht es ihm, ein Wohltäter zu sein, aber sein Altruismus hält ihn vor der Gesellschaft verborgen. Er ist ein äußerst bescheidener Held.
Der Roman hat einige Eigenarten. Vor allem sind es die epischen Schilderungen nicht nur der Figuren und ihrer Umstände, sondern auch der Nebensächlichkeiten. Beispielsweise wird die Schlacht von Waterloo zwischen Napoleon und Wellington sehr detailreich aus französischer Sicht geschildert, obwohl der einzige handlungsrelevante Punkt eine Szene nach der Schlacht ist, als Thénardier – mittlerweile ein Strolch – einem totgeglaubten Offizier ausraubt. Weitere ausführliche Schilderungen wie zur Geschichte eines Klosterordens oder zum Pariser Kanalsystem haben ebenso wenig mit der Handlung zu tun, geben aber Einblicke in das Leben im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, was im Übrigen auch den Niedergang des Adels und den Aufstieg des Bürgertums angeht. Immerhin, der Roman wurde 1862 geschrieben – keine hundert Jahre nach der französischen Revolution und Hugo vermittelt den Eindruck, dass dadurch zwar alles anders geworden war, aber für die Mittellosen sicher nicht besser.
Die Audio-Fassung
Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Buch in Papierform zu Ende gelesen hätte. Die Audio-Fassung – eine Produktion des SWF aus dem Jahr 1994, die 2013 im Audio Verlag erschien – glänzt durch ihren Sprecher. Nicht nur variiert er seine Stimme bei den verschiedenen Figuren, es gelingt ihm auch den langatmigen Passagen des Autors durch seine Stimme zumindest etwas Leben einzuhauchen. Besonders gefällt mir, dass er die Emotionen einzelner Figuren authentisch vermittelt, um beim Leser Spannung oder Mitgefühl auszulösen.
Der bereits verstorbene Sprecher Gert Westphal hat hier ein Meisterwerk hingelegt. Ich kann Hörbuchfans und vor allem auch anderen Sprechern die Lektüre nur ans Herz legen. Da das Hörbuch mit 58 Stunden Spieldauer nicht gerade ein Stau-Krimi ist, sollte viel Zeit zum Lesen eingeplant werden.
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