Ausnahmen und Fristen  

Nicht alle Inhalte müssen (bis 2018) nach der EU-Richtlinie 2102 barrierefrei werden

Die EU-Flagge mit der Beschriftung 2016/2102; rechts und links befindet sich jeweils ein löchriger Käse

Mit der Europäischen Richtlinie 2102 wird ab Dezember 2018 die Anwendung der EN 301 549 respektive der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.0 für alle öffentliche Stellen innerhalb der Europäischen Union verpflichtend sein. Die WCAG 2.0 sind grundsätzlich auf alle Inhaltsformen, Formate und Prozesse auf Webseiten und in mobilen Anwendungen anwendbar, auch wenn es vereinzelte Ausnahmen gibt. In der Europäischen Richtlinie werden weitere Inhaltsformen ausgenommen und für andere Inhalte gibt es längere Umsetzungsfristen.

Zunächst gilt die Europäische Richtlinie 2102 für Webseiten, Dokumente und mobile Apps, die für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich sind. Ferner gilt die Europäische Richtlinie auch für Intranets und Extranets. Für mobile Anwendungen, die für geschlossene Nutzergruppen oder für eine spezifische Verwendung innerhalb bestimmter Umgebungen entwickelt werden und generell nicht zugänglich sind, gilt die Europäische Richtlinie hingegen nicht.

Ausnahmen für bestimmte Inhaltsformen

Bestimmte Inhalte können nicht automatisiert barrierefrei umgesetzt werden bzw. können nur schwer auf Konformität zu den WCAG 2.0 überprüft werden. Die Europäische Richtlinie 2102 erklärt diese Umstände zum Anlass, bestimmte Inhaltsformen auf Webseiten oder in mobilen Anwendungen aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie auszuschließen. Folgende Inhaltsformen müssen nicht konform zur WCAG 2.0 gestaltet werden:

  • Live übertragene Multimedia benötigen keine Untertitel. Sofern die Multimedia aber weiter online verfügbar bleibt, müssen Untertitel unverzüglich (innerhalb von 14 Tagen) bereitgestellt werden.
  • Karten und Kartendienste benötigen geeignete Textalternativen (auch wenn die Karten selbst nicht barrierefrei gemacht werden müssen). Zum Beispiel sollte der Ausschnitt eines Stadtplans mit der Hervorhebung eines Gebäudes mit barrierefrei zugänglichen Textinformationen ergänzt werden etwa um einer Wegbeschreibung, Postanschriften und nahe gelegene Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel.
  • Inhalte von Dritten (die z.B. über ein Iframe eingebunden werden) und nicht in der Kontrolle des Anbieters liegen, aber auch nicht dazu führen, dass eine Webseite oder mobile Anwendung völlig unzugänglich werden, müssen nicht konform zu den WCAG 2.0 gestaltet werden. Das gilt auch für andere Inhaltsformen, die nicht vorab auf Barrierefreiheit geprüft werden können, etwa E-Mails in einem Webinterface, Kommentare zu Beiträgen oder von anderen Quellen aggregierte Inhalte. Die Ausnahme gilt aber nicht für die Benutzungsschnittstellen selbst etwa ein Webinterface zur Bearbeitung von Nachrichten, Konferenztools oder Messenger.
  • Bestimmte Reproduktionen von Kulturerbestücken sind nur mit großem Aufwand barrierefrei zu gestalten, etwa Manuskripte, bei denen eine automatische Texterkennung nicht funktioniert oder deren Kontrastverhältnisse unter den geforderten Schwellwerten liegen. In solchen Fällen sieht Artikel 1 Absatz 4 der Europäischen Richtlinie 2102 ebenfalls eine Ausnahme für die Anwendbarkeit der WCAG 2.0 vor.

Obwohl es heute barrierefreie Techniken für fast alle Inhaltsformen gibt und deshalb die Konformität zu den WCAG 2.0, Konformitätsstufe AA, generell anzustreben ist, so kann es immer wieder dazu kommen, dass eine vollständige Konformität nicht erreicht wird. Z.B. eine Java-Oberfläche ist faktisch nur eingeschränkt barrierefrei umzusetzen oder Textalternativen für komplexe Visualisierungen fassen nicht alle Aspekte des visuell dargebotenen Inhalts. Die Europäische Richtlinie empfiehlt in solchen Situationen, dass die öffentlichen Stellen WCAG-konforme Alternativen auf ihren Webseiten oder in ihren mobilen Anwendungen hinzufügen, sobald dies vernünftigerweise möglich ist.

Abweichende Umsetzungsfristen

Die Fristen für die Umsetzung der Barrierefreiheit sind in der Europäischen Richtlinie nicht ganz einheitlich:

  • Ab dem 23. September 2018 müssen öffentliche Stellen alle neuen Dateiformate aus Büroanwendungen wie PDF- oder Microsoft-Office-Dateien barrierefrei online stellen. Ältere Dateien müssen bis dahin ebenfalls barrierefrei sein, wenn sie für für aktive Verwaltungsverfahren benötigt werden.
  • Webseiten, die ab dem 23. September 2018 neu veröffentlicht werden, müssen bis zum 23. Dezember 2018 auf Stufe AA konform zu den WCAG 2.0 sein; Webseiten, die vor dem 23. September 2018 veröffentlicht werden, müssen erst bis zum 23. September 2020 barrierefrei sein.
  • Inhalte von Extranets und Intranets müssen ab dem 23. September 2019 barrierefrei sein.
  • Mobile Anwendungen müssen bis zum 23. Juni 2021 barrierefrei sein.

Zu diesen allgemeinen Fristen gibt es zwei Ausnahmen:

  • Inhalte, die vor dem 23. September 2019 archiviert werden, müssen nicht barrierefrei umgesetzt werden, außer sie werden für die Durchführung von Verwaltungsverfahren benötigt. Nur wenn die archivierten Webseiten inhaltlich (nicht technisch) aktualisiert werden, müssen sie barrierefrei angepasst werden.
  • Zeitbasierte Medien müssen erst ab dem 23.9.2020 barrierefrei sein. Dabei geht es um die Berücksichtigung von Untertiteln und/oder Audiodeskription.

Eindrücke

Die inhaltlichen Ausnahmen halte ich für Kosmetik – zumindest was die ersten beiden Punkte betrifft. Der dritte Punkt (Inhalte von Dritten) ist insofern problematisch, als es mit der Konformitätsbedingung 2 der WCAG 2.0 in Widerspruch steht; dabei gehört die Erfüllung der Konformitätsbedingungen nach der EN 301 549 zu den Mindestanforderungen der Barrierefreiheit. Lediglich beim letzten Punkt (Reproduktionen) kann ich die Schwierigkeiten in der Praxis nachvollziehen.

Die Fristen sind durchaus sportlich, denn ich kann mir beispielsweise kaum vorstellen, dass alle öffentlichen Stellen es schaffen, ihre Workflows für barrierefreie Dokumente bis nächstes Jahr anzupassen. Dennoch: Die Software und das Knowhow sind beide verfügbar und die Umsetzung selbst ist nicht kompliziert. Das eigentliche Problem dürfte sein, alle für die Dokumente, Webseiten und mobilen Apps verantwortlichen Mitarbeiter der öffentlichen Stellen Rechtzeitig mit den erforderlichen Informationen und Schulungen zu versorgen.

Dieser Beitrag ist Teil einer mehrteiligen Serie zur Europäischen Richtlinie 2016/2102:

4 Gedanken zu “Ausnahmen und Fristen – Nicht alle Inhalte müssen (bis 2018) nach der EU-Richtlinie 2102 barrierefrei werden

  1. Hallo Jan,

    vielen Dank für deine Erklärungen zur Richtlinie 2102. Ich versuche gerade, die Ausnahmen zu verstehen und bin über den Begriff „aktive Verwaltungsverfahren“ im Zusammenhang mit PDFs und Office-Dokumenten gestolpert.

    Der Richtlinientext sagt dazu wörtlich in Artikel 1:

    „(4) Diese Richtlinie gilt nicht für die folgenden Inhalte von Websites und mobilen Anwendungen:
    a) Dateiformate von Büroanwendungen, die vor dem 23. September 2018 veröffentlicht wurden, es sei denn, diese Inhalte sind für die aktiven Verwaltungsverfahren der von der betreffenden öffentlichen Stelle wahrgenommenen Aufgaben erforderlich“

    Meine Frage: Wie eng sollte man das Wort „erforderlich“ fassen? Die Interpretation ist ja maßgeblich dafür, welche alten PDFs zum 23.9.2018 barrierefrei sein müssen.

    Meine Interpretationslinie wäre:
    1. Wenn das PDF ein interaktives Formular zur Antragsstellung enthält: definitiv ja
    2. Ein Merkblatt, das begleitende erläuternde Informationen zu einem auf anderem Weg gestellten Antrag enthält: eigentlich auch ja – da bin ich mir aber nicht ganz schlüssig.
    3. Eine gewöhnliche Imagebroschüre als PDF: eher nein.

    Und zwischen diesen Fällen gibt es sicher ein ganzes Spektrum mit unterschiedlichen Grautönen. Deshalb würde mich interessieren, wie Du diese Formulierung im Text der Richtlinie auffasst.

    Grüße, Christian

    1. Hallo Christian,

      Mein Verständnis ist auch so (Formulare + Anleitungen), aber es sollten zwei Punkte berücksichtigt werden:

      1. „aktive Verwaltungsverfahren“ ist ein Begriff aus der übersetzten Richtlinie. Wie das genau definiert ist, muss wahrscheinlich in einer anderen EU-Richtlinie ermittelt werden. Jedenfalls ist das nach meiner Einschätzung kein geläufiger deutscher Begriff .
      2. Die EU-Richtlinie ist an die Mitgliedsstaaten gerichtet z.B. an die deutsche Bundesregierung. Demnach ist die die Bundesregierung angehalten, die eigenen Vorgaben zu überprüfen (z.B. BITV 2.0) und ggf. anzupassen.

      Dokumente sollten aber nach meiner Auffassung schon heute WCAG-konform sein – nach BITV 2.0. Das gilt grundsätzlich für alle Dokumente der öffentlichen Stellen (auf Bundesebene), aber insbesondere für jeglichen Antrag, den die Bürger an die Verwaltung stellen können, einschließlich der Ausfüllhilfen. Diesen Anspruch haben Bürger auch auf Landes- und kommunaler Ebene, aber leider in unterschiedlichem Maße. Die EU-Richtlinie dehnt den Anspruch des Bürgers auf barrierefreie Dokumente auf alle Ebenen aus.

      1. Hallo Jan,

        danke für deine Einschätzung, welche Art von Dokumenten davon betroffen ist. Was den Bund betrifft, ist die Sache, wie Du schon sagst, auch heute schon eindeutig geregelt.

        Mich interessiert momentan ganz besonders, ob das Thema und die Umsetzungsfristen zur Richtlinie 2102 den ganzen Körperschaften des öffentlichen Rechts auf lokaler Ebene überhaupt bewusst ist. Weiß z.B. eine IHK davon, dass sie PDFs für aktive Verwaltungsverfahren ab September 2018 barrierefrei anbieten müssen? Und, selbst falls diese Frage mit ja beantwortet ist: ist das für Entscheider der IHK handlungsleitend oder gilt eher das Motto „ich lass das auf mich zukommen. Bevor sie mich verklagen, wird es tausend andere treffen“?

        1. Die Frage stelle ich mir auch, denn nicht nur fehlen die Verordnungen teilweise, sondern die Institutionen/Mitarbeiter müssen an der erforderlichen Software geschult werden.

          Am 8.3.2017 fand eine Veranstaltung des Projekts “ Barrieren Melden und Monitoringstelle“ an der TU Dortmund statt. Es gab zwar eine Online-Dokumentation, aber die ist jetzt leider nicht mehr verfügbar. Insbesondere gab es eine Präsentation des BMAS zur gesetzlichen Situation. Aus dem Gedächtnis heraus war die Stimmung „Der Bund muss wenig anpassen, aber in den Ländern sieht das anders aus“. Davon ausgeklammert ist natürlich die Monitoring-Behörde – die muss wohl erst aufgebaut werden.

          In den letzten Monaten habe ich nichts über neue BITVs gehört. Aus meiner Sicht wird die Zeit schon ziemlich knapp.

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