Auf zur barrierefreien Version  

Was die WCAG 2.0 und die BITV 2.0 zu Accessibility-Overlays sagen

Eine verschwommene Darstellung von vielen Schaltern und Schiebereglern

Ansätze zum barrierefreien Webdesign gibt es viele. Zuletzt habe ich eine Anwendung untersucht, die ein Interface für Autoren bereitstellt, um Weboberflächen nachträglich barrierefrei zu gestalten. Dabei konnten neben einem Kontrastschema auch weitere Profile für die Tastaturbedienung oder zum Ausschalten von blinkendem Inhalt gewählt werden; Das Profil legte sich einfach als „Accessibility-Overlay“ über die bestehende Webseite. Die Idee ist einfach, aber Nutzer müssen die Erweiterungen per Style-Switcher aktivieren. Außerdem stellt sich die Frage, ob solche Accessibility-Overlays Konformität zu den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.0 bzw. zur Barrierefreien Informationstechnik-Verordnung – BITV 2.0 herstellen können.

Auswahlliste von Barrierefreiheitseinstellungen

Nach Konformitätsbedingung 1 der WCAG 2.0 können alternative Versionen einer Webseite (z.B. ein Accessibility-Overlay) Konformität zu den Richtlinien herstellen, allerdings muss mindestens eine alternative Version vollständig konform sein. In der in Deutschland aktuell geltenden BITV 2.0 (Anlage 1) wurden die Konformitätsbedingungen der WCAG 2.0 nicht übernommen.

Web Content Accessibility Guidelines 2.0

Ohne Zweifel ist die gemeinsame Unterlage für Anforderungen der Barrierefreiheit die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.0 des W3C. Dieser Webstandard ist auch in einer deutschen Fassung verfügbar.

In der WCAG 2.0 wird in Konformitätsbedingung 1 festgelegt:

Eine der folgenden Stufen der Konformität ist vollständig erfüllt.

  • Stufe A: Für eine Konformität auf Stufe A (die minimale Konformitätsstufe) muss die Webseite alle Erfolgskriterien der Stufe A erfüllen oder es wird eine konforme Alternativversion zur Verfügung gestellt.
  • Stufe AA: Für eine Konformität auf Stufe AA muss die Webseite alle Erfolgskriterien der Stufen A und AA erfüllen oder es wird eine Stufe AA-konforme Alternativversion zur Verfügung gestellt.
  • Stufe AAA: Für eine Konformität auf Stufe AAA muss die Webseite alle Erfolgskriterien der Stufen A, AA und AAA erfüllen oder es wird eine Stufe AAA-konforme Alternativversion zur Verfügung gestellt.

Weiterführende Erläuterungen zur alternativen Version werden behandelt in einem WCAG-2.0-unterstützenden Dokument. In diesem informativen (nicht normativen) Dokument werden konkrete Anlässe für eine alternative Version beschrieben. Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Konformität ist, dass die konforme Seite für alle leicht erreichbar ist.

Dennoch sind alternative Versionen für die Erreichung der Konformität zur WCAG 2.0 generell zu vermeiden:

Note that providing an alternate version is a fallback option for conformance to WCAG and the preferred method of conformance is to make all content directly accessible.

Nach der WCAG 2.0 sind alternative Versionen wie ein Accessibility-Overlay grundsätzlich zulässig.

Gesetzliche Regelung in Deutschland

Behindertengleichstellungsgesetz

In Deutschland gilt seit 2002 das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen – Behindertengleichstellungsgesetz (BGG); Im Wesentlichen regelt das Gesetz die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in Behörden, Körperschaften und Anstalten des Bundes. Auf Länderebene gelten weitere Gleichstellungsgesetze.

Im BGG wird Barrierefreiheit in § 4 definiert:

Barrierefrei sind […] Systeme der Informationsverarbeitung […], wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.

Zum Begriff „in der allgemein üblichen Weise“: Dieser Passus bedeutet, dass es keine Sonderlösungen geben darf. Ein Gebäude ist nicht barrierefrei, wenn es zwar zugänglich ist, aber Rollstuhlfahrer nicht durch den Haupteingang, sondern einen Hintereingang benutzen müssen.

Türbeschriftung: Lieferanten und Behinderteneingang

Im Web bedeutet dies, dass es keine „barrierefreie“ Versionen eines sonst nicht barrierefreien Auftritts geben darf, sondern dass die Standardangebote von vorne herein zugänglich und nutzbar sein müssen.

Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung – BITV 2.0

In § 12 Absatz 1 BGG wird die Informationstechnik geregelt. Die Kriterien für ein barrierefreies Webdesign werden in der Barrierefreien Informationstechnik-Verordnung – BITV 2.0 genauer beschrieben. In der Anlage 1 der BITV 2.0 wird eine Übersetzung der Web Content Accessibility Guidelines 2.0 als technischer Standard festgelegt.

Trotz der Übernahme der Richtlinien des W3C zur barrierefreien Webgestaltung gibt es einige Unterschiede zwischen BITV 2.0 und WCAG 2.0. Insbesondere wurden die Konformitätsbedingungen der WCAG 2.0 in der BITV 2.0 weder in der Fassung von 2011 noch in der Fassung von 2016 übernommen.

 

Alternative Version in der BITV 2.0

Durch das Fehlen der Konformitätsbedingungen in der BITV 2.0 fehlt eine Regelung darüber, ob eine alternative Version als „barrierefreie“ Alternative für eine Webseite bewertet werden kann. Mehr Aufschluss bietet die Begründung zur BITV 2.0 in der Fassung von 2011:

Entsprechend der Definition von Barrierefreiheit (vgl. § 4 Behindertengleichstellungsgesetz) sind Sonderlösungen möglichst zu vermeiden und Alternativangebote für nicht den Standards der Anlage 1 entsprechenden Inhalten grundsätzlich ausgeschlossen. […] Ist die Erstellung eines barrierefreien Webangebots nach den technischen Standards der Anlage 1 für einzelne Teile nicht möglich, ist eine konforme Alternativversion auf gleicher Datenbasis zur Verfügung zu stellen, welche gleichwertige Funktionalitäten und Informationen von gleicher Aktualität enthält, soweit es die technischen Möglichkeiten zulassen. Bei der Verwendung nicht barrierefreier Technologien sind diese zu ersetzen, sobald auf Grund der technischen Entwicklung gleichwertige zugängliche Lösungen verfügbar und einsetzbar sind. […]

Sind solche Dienste und Plattformen nicht verfügbar, sind diejenigen Dienste und Plattformen auszuwählen, die den derzeit höchstmöglichen Standard der Barrierefreiheit gewährleisten.

Während für Spezialanwendungen ein geringeres Qualitätsniveau akzeptiert wird, sind alternative Versionen nach der BITV 2.0 allgemein nur aus technischen Gründen (etwa wenn der Code nicht zugänglichkeitsunterstützend ist) für einzelne Inhalte akzeptabel.

Schlussfolgerung

Obwohl nach der WCAG 2.0 und nach der BITV 2.0 die alternative Version grundsätzlich zu vermeiden ist, so lässt die WCAG 2.0 mehr Spielraum zu bei der Ausnahmeregelung.

Die WCAG 2.0 ist ein internationaler Webstandard, der nicht nur Nutzer, sondern viele andere Interessen berücksichtigen muss. Einer der wichtigsten Aspekte ist die technische Überprüfbarkeit der formulierten Anforderungen. Da eine alternative Version in manchen Situationen zweckmäßig sein kann, und aber die Abwägung, ob sie notwendig ist, technisch kaum überprüft werden kann, muss die Möglichkeit einer alternativen Version offen gelassen werden.

Für die allermeisten Webseiten und Webanwendungen gibt es keinen Grund, Accessibility-Overlays oder andere alternative Versionen anzubieten, denn die Standardangebote können WCAG-konform gestaltet werden. Es kann Situationen geben, in denen hochmoderne Webtechniken eingesetzt werden (z.B. wenn heute HTML 5.2 oder ARIA 1.1 eingesetzt wird); dann kann nach WCAG 2.0 und BITV 2.0 eine alternative Version angeboten werden.

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