Kostenlose Screenreader  

2. Kostenfrei bedeutet nicht umsonst

Logo window eyes (Teil 2 von4)

Es gibt Unruhe in der deutschen Blindenszene, weil der Screenreader Window Eyes seit Kurzem kostenlos angeboten wird. In Deutschland werden Hilfsmittel wie Screenreader i.d.R. durch einen Kostenträger finanziert, etwa durch das Integrationsamt oder den Rentenversicherungsträger bei Berufstätigen oder durch die Krankenkasse für die private Nutzung. Wenn Hilfsmittel kostenfrei sind, könnten die Kostenträger die Ansicht vertreten, sie müssen keine Leistungen gewähren – auch keine Schulung oder keinen Support.

Anfang 2014 ist der Screenreader Window Eyes überraschend kostenfrei geworden. Damit stehen zwei kostenfreie Screenreader blinden Windows-Nutzern zur Verfügung.

Dieser Beitrag hat vier Teile. Im ersten Teil biete ich eine Übersicht über die Screenreader-Landschaft. In diesem zweiten Teil geht es um die Frage, wie die Kostenträger in Deutschland mit der Situation umgehen könnten, da es jetzt schon zwei kostenfreie und leistungsfähige Screenreader für Windows gibt. Im dritten Teil werden Argumente aufgezählt, die für kostenpflichtige und kostenfreie Screenreader ausgetauscht werden können. Im letzten Teil geht es dann darum, ob Microsoft mit dieser Kooperation mit GW Micro einen Coup gelandet hat oder nicht.

Abschaffung der Anschaffungskosten

Bei einigen Hilfsmitteln schlagen insbesondere die Krankenkassen den Weg bereits ein, auf kostenfreie Produkte zu verweisen. Beispielsweise gibt es speziell für Blinde entwickelte Produkterkennungsgeräte, die nicht gerade günstig sind. Da es aber Apps für Smartphones gibt, möchten die Krankenkassen gerne, dass ihre Kunden die kostengünstige oder kostenfreie Variante nutzen. Das wäre kein Problem, wenn jeder das entsprechende Smartphone hätte und zudem die Software mit der verfügbaren Screenreader-Technologie bedient werden könnte (z.B. Voice Over auf dem iPhone). Mit dem Verweis auf SmartPhones können die Kostenträger sich aus der Verantwortung stehlen, denn die Hardware braucht eine Krankenkasse nicht finanzieren, weil es sich um einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handelt. Die Nutzung mancher kostenloser Apps scheitert aber an der Bedienbarkeit mit einem Screenreader, denn die Apps sind keinesfalls immer barrierefrei.

Vor allem Krankenkassen könnten dazu übergehen, auch bei Screenreadern auf kostenfreie Produkte zu verweisen. Je nachdem kann eine kostenlose Software alle Anforderungen erfüllen: Wenn es darum geht, mit einer Textverarbeitung Briefe zu schreiben und darüber hinaus Mails zu lesen oder zwischendurch eine Webseite aufzurufen, dann gibt es mittlerweile eine Auswahl an geeigneten Screenreadern für alle gängigen Betriebssysteme, die kostenfrei installiert werden können. Wenn hingegen die Kunden einen Screenreader brauchen, um speziellere Software zu bedienen – und dazu zählt auch schon Microsoft Powerpoint -, dann können die kostenfreien Screenreader zumindest bis heute keine angemessene Bedienung bieten.

Zwischenzeitlich gibt es zwei kostenfreie Screenreader für das Windows-Betriebssystem. NVDA ist schon immer kostenfrei gewesen und entwickelt sich ständig weiter. Seit Kurzem wird Window Eyes ebenfalls kostenfrei angeboten – sofern eine Lizenz für Microsoft Office vorliegt. Standardanwendungen von Microsoft oder das Browsen im Web sind mit beiden Screenreadern durchaus möglich.

Vernachlässigte Folgekosten

Aus der Pflicht kommen die Kostenträger trotz der kostenlosen Screenreader nicht, denn es gibt verschiedene Problemkreise, die unmittelbar mit der Nutzung eines Screenreaders zusammenhängen:

  • Wer ein Screenreader zum ersten Mal nutzt, braucht eine intensive Schulung in der Bedienung des Hilfsmittels.
  • Standard-Software und Screenreader entwickeln sich immer weiter und es sind zwangsläufig Updates alle paar Jahre erforderlich. Auch bei Updates ist eine Schulung sinnvoll. Gleiches gilt für Umsteiger, wenn von einem Screenreader zu einen anderen gewechselt wird.
  • Schließlich gibt es Support-Anforderungen auch bei Hilfsmitteln, die immer wieder auftauchen können.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Kostenträger die Ausgaben für Hilfsmittel wie Screenreader streichen. Auch wenn der Trend zu kostenloser Software geht, so steigern sich die Einsatzmöglichkeiten von Rechnern und insbesondere mobilen Geräten von Jahr zu Jahr. Was nützen Gerätschaften, wenn sie nicht bedient werden können? Der sichere Umgang mit der Software muss von den Kostenträgern gewährleistet werden und es geht letztlich um die Bedienbarkeit des Betriebssystems und die voraussichtlich eingesetzten Anwendungen in einer behinderungskompensierenden Weise. Letztlich kommt es darauf an, was der blinde Nutzer im Alltag am Computer oder auf dem SmartPhone erledigen möchte.

Frage der Haltung

Bei jedem neuen Betriebssystem und bei allen neuen Anwendungen muss ich mich natürlich wie jeder andere einarbeiten. Aber erstens fällt mir die Erschließung der grafischen Oberflächen mit einem Screenreader schwerer als bei sehenden und zweitens gibt es viele Anwendungen, die an bestimmten Stellen nur umständlich oder überhaupt nicht mit einem Screenreader zu bedienen sind. Ein qualifizierter Trainer wird mir hier die Erschließung vereinfachen und ggf. auch die alternativen Strategien aufzeigen.

Schulungskosten sind als Teil der Hilfsmittelversorgung und der Krankenkassenleistungen anzusehen, unabhängig davon, ob der Screenreader selbst kostenlos oder kostenpflichtig ist. Das sagt der Verstand und auch das Sozialgesetzbuch V (§ 33 Abs. 1). Tatsächlich lässt sich beobachten, dass Kostenträger den Umfang für Schulung und Support für kostenfreie Screenreader deutlich niedriger schätzen als für kostenpflichtige Produkte. Gleichzeitig scheint diese Haltung auch in den Köpfen der Nutzer zu stecken: Was keine Anschaffungskosten verursacht, darf keine Zusatzkosten mit sich bringen. So wird kein Screenreader bei der Krankenkasse beantragt und oft auch keine strukturierte Schulung.

Für diese Haltung habe ich kein Verständnis, sowohl gegenüber den Kostenträgern als auch gegenüber den Nutzern: Als erfahrener Nutzer habe ich vor einigen Jahren einen Windows 7 Rechner mit einem aktuellen Office-Paket gekauft, und selbstverständlich habe ich mich mehrere Tage darauf schulen lassen. Die Kostenübernahme für die Schulung habe ich bei einem Kostenträger beantragt und bewilligt bekommen.

Konsequenzen

Ich denke, die Unruhe ist gerechtfertigt. Ich habe schon in anderen Zusammenhängen feststellen müssen, wie sich Kostenträger in teilweise lächerlichen Argumentationsketten verirren, um bestimmte Leistungen nicht zu finanzieren. Selbst wurde mir von meiner Krankenkasse die Finanzierung von Orientierungs- und Mobilitätstraining verweigert, was ich zwei Jahre nach dem ursächlichen Umzug dann doch vor Gericht erstreiten konnte.

Die Leistungsempfänger müssen ihre Rechte natürlich stärker einfordern. Dabei geht es um die Wahl des richtigen Screenreaders, wozu ein objektiver Marktüberblick und die Fähigkeit, die genaueren Anforderungen zu formulieren, gehören. Es geht aber auch um juristische Fragen und selbstverständlich um Zeit. Ein Widerspruchsverfahren mit anschließender gerichtlicher Auseinandersetzung dauert etliche Monate bis Jahre und kostet zusätzliches Geld. Ohne Unterstützung durch technische und juristische Fachleute sind die Erfolgsaussichten allerdings nicht besonders rosig.

Auch müssen die Blindenverbände eine klare Richtung vorgeben. Das Hilfsmittelverzeichnis der gesetzlichen Krankenversicherungen führt unter der Position 07.99.03 die „spezielle Software zur behindertengerechten Anpassung“ als Computerhilfsmittel auf, aber dort fehlt es an Leistungsmerkmalen oder Entscheidungsschemata, die bei der Wahl des richtigen Screenreaders helfen könnten. Im einfachsten Fall wird das, was auf dem Rezept geschrieben wird, zwischen Arzt und Patient ausgehandelt. Möglicherweise kommen Hilfsmittelanbieter hinzu, die konkrete Produkte absetzen wollen, aber benötigt wird eine individuelle Lösungsstrategie sowohl was den richtigen Screenreader als auch den Umfang der Einweisung angeht. Diese Erfordernis wird nicht durch die kostenfreien Screenreader verursacht, sondern lediglich verschärft. Es fehlt außerdem ein regelmäßiger objektiver Nachweis, dass bestimmte (kostenfreie) Screenreader für die Erledigung bestimmter Aufgaben am Computer geeignet sind oder nicht.

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